2017 / 17. Mai

Einkauf 4.0 und neue Arbeitswelt: Killerinstinkt gefragt


Wie wird der Einkauf in Zukunft agieren und in welche veränderten Rollen müssen Mitarbeiter und Führungskräfte hineinwachsen? Darüber tauschten sich rund 70 Teilnehmer des DACH-Raums aus Unternehmen, Dienstleistung und Wissenschaft am 15. Mai in Wien im Haus der Industrie aus. Der Expertendialog des Bundesverbandes Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik in Österreich (BMÖ) über Prozesse, Aufgaben, Anforderungen, Qualifikation und neue Arbeitswelt machte deutlich: Schlagworte rund um Digitalisierung und den „Faktor 4.0“ prägen die öffentliche Diskussion, sind aber allenfalls vage definiert. Was fehlt, ist ein einheitliches Verständnis. Unterschiedliche Deutungen, Erwartungen, Analysen und Voraussagen erschweren das Ableiten individueller Handlungsmuster.

Prof. Dr. Holger Schiele, Universität Twente (NL)

Technische Standards und beispielgebende Prozessbeschreibungen existieren nicht, Erfahrungswissen verliert stark an Bedeutung. „Entscheidende Erfolgsfaktoren sind neben den nötigen Standardisierungen vor allem Flexibilität, Agilität, Lieferanten- und Mitarbeiterbereitschaft“, betonte Prof. Dr. Holger Schiele von der Universität Twente (Niederlande). Isabella Meran-Waldstein, Bereichsleiterin Forschung, Technologie & Innovation der Industriellenvereinigung (Wien), verwies auf die bedeutsame Schnittstellenfunktion des Einkaufs. Sie forderte zudem eine Stärkung der MINT-Ausbildung (Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) in Österreich.

Einig waren sich die Teilnehmer darin, dass ein Agieren inmitten einer cyber-physikalischen Umgebung nicht als reines Software-Thema abgetan werden könne. Kommunikationswege, Beständemanagement, Vertragspolitik, Big Data, Datenverfügbarkeit, Risikobewertung und Sicherheitsfragen aller Art gelte es beherrschbar zu machen – Anforderungen, die veränderte Profile von Einkäufern, Logistikern und Supply Chain Managern nötig machten. „Das bloße Ersetzen bisheriger Prozesse durch neue Technologie führt nicht zum gewünschten Produktivitätssprung“, mahnte Heinz Pechek, geschäftsführender BMÖ-Vorstand. Wenn zukünftig Geräte selbständig ihren Nachschub organisieren und dabei auf ein verbundenes Lieferantennetz zurückgreifen, wenn Teilbereiche von Verhandlungen durch Avatare algorithmus-basiert ablaufen, dann sei es die Aufgabe des „Einkaufs neuen Typs“, sich vornehmlich strategischen und hoch-wertschöpfenden Tätigkeiten zu widmen.

Holger Schiele verwies auf eine bevorstehende Renaissance von B2B-Plattformen, etwa in der Logistik: Was vor rund 20 Jahren angestoßen worden sei, habe sich nur in wenigen Fällen als Geschäftsmodell durchgesetzt, weil viele Einkäufer und Lieferanten durch teilweise rudimentäre Systeme und Anbindungen überfordert gewesen seien. Schiele: „Industrie 4.0 kann Marktplätzen Auftrieb geben, weil Cybersysteme die Wahl treffen und viel mehr Alternativen vergleichen als Menschen.“ So sinke zum Beispiel die Notwendigkeit für Rahmenverträge.

Reinald Schneller (Netfira)

v.l.: Michael Klemen (BMÖ-Vorstand), Gregor van Ackeren (VDMG), Christoph von Lattorff (Mercateo)

Reinald Schneller (Netfira), Christoph van Lattorff (Mercateo) und Gregor van Ackeren (VDMG, van der Meer Gruppe) verwiesen auf die hohe Bedeutung passgenauer elektronischer Beschaffungssysteme bzw. einzelner Tools, die den Einkauf in die Lage versetzen, Produktivitätssteigerungen gegenüber der Geschäftsleitung transparent und beweisbar zu machen. Reinald Schneller: „In Sachen Digitalisierung ist es eminent wichtig, Lieferanten möglichst konflikt- und kostenfrei anzubinden. Sonst verpuffen die beabsichtigten Effekte.“ Auch Big Data mache ohne Lieferantenharmonisierung keinen Sinn. Gregor van Ackeren betonte die großen Potenziale, die vornehmlich im Mittelstand schlummerten: „KMU sind besonders gute Kunden. Sie haben bessere Voraussetzungen für schnelle Erfolge, weil sie rascher entscheiden und handeln können.“

Prof. Dr. Jivka Ovtcharova (KIT)

Prof. Dr. Jivka Ovtcharova vom Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (Karlsruher Institut für Technologie, KIT) spannte den Bogen von der physisch-analogen Welt über die logisch-digitale bis zur mentalen Welt. Der Wegfall des analogen Ortsprinzips stehe dem neuen Prinzip einer Universalität durch digitale Codierung gegenüber. Das beeinflusse individuelle Wahrnehmungen und emotionale Bindungen erheblich. Ovtcharova: „Die große Mehrheit der Unternehmen steht noch am Anfang. Problem ist derzeit, dass es kein einheitliches Verständnis von Voraussetzungen, Inhalten, Implementierung und von einer Zeitleiste der Vision gibt.“ Digitalisierung, Bildung und Training seien Aufgabe aller Beteiligten. Und um zu bestehen, sei „Killerinstinkt“ gefragt. Das bedeutet laut Jivka Ovtcharova konkret: „Jetzt einsteigen, ausprobieren, wagen und lernen – vor allem im Verbund mit anderen Unternehmen.“

Peter Diederich (WIFO Consult)

Peter Diederich (WIFO Consult) und Bettina Bohlmann (3p Procurement Branding) betonten den menschlichen Aspekt im Kontext „4.0“. Komplexität und Mehrdeutigkeit von Informationen erforderten von allen Beteiligten – neben großer Veränderungsbereitschaft – die Fähigkeit, Wissen zu teilen und Erfahrungen „ent-lernen“, meinte Bohlmann. Diederich forderte dazu auf, sich auch wieder an „scheinbar vergessenen“ Lean-Management-Konzepten auszurichten: Lean bedeute das ständige ganzheitliche Verändern von Methoden, Prozessen, Personal, Führung, Arbeitsbedingungen, Produktportfolio und vor allem Kultur. Mangelnde Information und Kommunikation behindern seiner Auffassung nach allzu oft Erfolge. „Bevor Unternehmen nicht Ursachen für Blindleistung, Doppelarbeit und Verschwendung eliminiert sowie Schnittstellen reduziert haben, werden sie auch im Umfeld ‚4.0‘ nicht vorankommen“, so Diederich.

 

Bettina Bohlmann (3p Procurement Branding)

Hinweis
In der Task Force Einkauf 4.0 (im Herbst 2015 gegründet) analysieren BMÖ und CPOs österreichischer Unternehmen den Status von Big Data, Internet der Dinge, Einkauf 4.0 und Industrie 4.0. Ziel: ein Aktionsplan mit Konzepten und Empfehlungen zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und Steigerung von Innovationsgeschwindigkeit.

Text/Copyright Fotos: Sabine Ursel

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